Menü

Weihnachtsempfehlung von Moritz Hildt: „Unberührt“ von Agnes Gerstenberg

 

Foto: Moritz Hildt
© Foto: Moritz Hildt

Weihnachten ist, wie man so gern sagt, ein Fest der Liebe. Was damit gemeint ist, mag stark variieren, aber immerhin eines scheint doch zur Liebe dazuzugehören: dass wir berührt werden wollen, und selbst berühren. Genau hier setzt der in diesem Jahr erschienene Debütroman von Agnes Gerstenberg an. Die Protagonistin Josy hat nämlich ein Problem: Sie ist, schon seit ihrer Kindheit, ein durch und durch haptischer Mensch. Wenn sie etwas interessiert – egal ob es sich dabei um einen Gegenstand oder einen Menschen handelt –, dann will sie berühren, anfassen, mit den Fingern über die Erhebungen, Kuhlen und Zwischenräume streichen, über glatte, raue, warme, feuchte und kalte Stellen.

Diese Art, der Welt zu begegnen, bringt, wie sich leicht vermuten lässt, die ein oder andere Schwierigkeit für Josy mit sich. Und so ist sie, als wir ihr zweiundzwanzigjährig im Roman begegnen, eine Person, die selbst noch niemals wirklich berührt worden ist. Sie lebt in einer fragilen Beziehung zu ihrer Umwelt, da ihr und ihrer Art auf unterschiedlichste Weise mit Ablehnung begegnet wird. Alles scheint sich für sie zum Guten zu wenden, als sie Robert kennenlernt, der ihr im Waschsalon einen Kaffee macht, den sie eigentlich gar nicht haben will. Doch nicht viel später ist Robert tot, und den aufmerksamen Leser beschleicht die unangenehme Vermutung, dass Josy nicht ganz unbeteiligt daran ist.

Unberührt ist ein leichtfüßig erzählter und bis zum Ende spannender Roman, dem es gelingt, beides zu sein: Auf der einen Seite hat Agnes Gerstenberg eine packende Story geschrieben, die um einen rätselhaften Unglücksfall kreist, dessen Facetten nach und nach enthüllt werden. Und auf der anderen Seite ist Unberührt eine ebenso ungewöhnliche wie faszinierende Auslotung unserer Sinnlichkeit, die wir in unserem auf körperliche Distanz ausgerichteten Alltag allzu leicht verleugnen.

Weihnachten gilt nicht nur als Fest der Liebe, sondern schließlich ja auch als ein „Fest der Sinne“. Kein schlechter Zeitpunkt also, um sich genau damit zu beschäftigen: mit Berührungen.

Agnes Gerstenberg: Unberührt. Aphaia Verlag: München 2023

Die bibliographischen Angaben zur Bestellung im Buchhandel finden Sie hier

Anstehende Veranstaltungen