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Buchtipp von Astrid Braun: „Schiefern“ von Esther Kinsky

Wer erinnert sich noch an die Schiefertafeln, die früher die ABC-Schützen benutzt haben, um das Schreiben zu erlernen? An das kratzende Geräusch der Kreide, wenn sie auf den glatten Oberflächen aufgetragen wurde? Die großen Schultafeln aus Schiefer haben länger überlebt, der Übergang zum Touchscreen ist längst noch nicht abgeschlossen.
„Schiefer, dem vielgestaltigen, wandlungsfähigen Sedimentgestein, und den Slate Islands, einem kleinen Archipel vor der Westküste Schottlands“ ist der neue Gedichtband von Esther Kinsky gewidmet. Die vielfach ausgezeichnete Autorin und Übersetzerin wurde erst jüngst in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen.

Allerdings existiert das Verb „schiefern“ in keinem Wörterbuch, aber sofort erfasst man, was gemeint ist, einen Prozess der Veränderung in den Schieferschichten, der dem Dichten ähnlich ist, wenn Wörter bearbeitet und überschrieben werden. Auch Gesteinsschichten, die nach Ewigkeit klingen, sind also irgendwann durch Stauchung entstanden und verändern sich mit der Zeit, werden überlagert, eingefärbt durch pflanzliche, rotsteingetönte Einschübe, Wucherungen. Selbst im vergrößerten Foto des Covers sind die diese „Spiele des Werdens“ gut zu erkennen.
Der Schieferabbau auf den State Islands wurde schon von vielen Jahren aufgegeben, hinterlassene Steinbrüche und Trümmer ergeben eine bizarre Landschaft, eine Industrielandschaft, die nun den Elementen ausgesetzt ist.

Esther Kinsky hat sich in diese raue Gegend begeben, an die Schiefertafeln erinnernd, sie mit Worten neu er- und beschrieben. Der entstandene dreiteilige Gedichtzyklus, ein Triptychon, ist mit „Deep Time“, „Siebenunddreißig Stimmen“ und „Schrifttierchen“ überschrieben. „Schrifttierchen, die Graptolithen, sind Organismen, die in Bechern lebten und verästelte Kolonien bildeten – und deren Bezeichnung sich dem Umstand verdankt, dass ihre Versteinerungen heute an Schriftzeichen erinnern“. Aus der Tiefe der Zeit werden Stimmen, Zeugnisse im übertragenen Sinne, lesbar, generieren neue Ausdrucksformen und wirken in die Zukunft.
Sehr beeindruckend, wie dieses grau-schwarze Material hier in Worten in allen Farben und Schattierungen leuchtet.

© Wolfgang Haenle

In ihrer Besprechung von diesem Gedichtband hat Marie-Luise Knott das schöne Bild „Dichtung ist Schichtung“, entwickelt. Diesen langwierigen Prozess der Steindurchschichtungen lässt sich in diesem Foto, das Wolfgang Haenle auf Kreta gebannt hat, sehr schön nachvollziehen, auch wenn es kein Schiefer ist.

Wenn Sie Lust bekommen haben, sich mit diesen Gedichten zu beschäftigen, können Sie es im unabhängigen Buchhandel bestellen. Die dazu notwendigen bibliographischen Angaben finden Sie hier.

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