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Buchtipp von Moritz Hildt: „Vom Wagnis, die Welt in Worte zu fassen“ von Eudora Welty, übersetzt von Karen Nölle

„Nicht das Lesen, sondern das Leben weckt in mir die Lust, zu schreiben. Und doch ist es das Lesen, das mich das Schreiben lieben lässt.“ Diese pointierte Selbstauskunft der hierzulande wenig bekannten US-amerikanischen Schriftstellerin Eudora Welty (1909 – 2001) lenkt den Blick darauf, dass das literarische Arbeiten mit mindestens zwei Bereichen untrennbar verbunden ist – mit dem Leben, und mit dem Lesen.
Welty, die in den USA zu den Grandes Dames der Südstaatenliteratur zählt, schreibt über die gewöhnlichen Menschen, über Familien und Verstrickungen, mit ihrer ganz eigenen Stimme, die ihren stets präsenten, leisen Humor mit einer leichtfüßigen Lebensfreude und einem sympathischen Wohlwollen für menschliche Unzulänglichkeiten verbindet.
Da ihre Bücher es bedauerlicherweise zum allergrößten Teil – trotz lobender Kritiker-Vergleiche, die Welty immer wieder als „weiblichen William Faulkner“ oder „Jane Austen des Südens“ bezeichnen – nicht nach Deutschland geschafft haben, habe ich mich neulich umso mehr gefreut, als ich beim Stöbern in einer guten Buchhandlung über eine Neuübersetzung ihrer Memoiren gestolpert bin: One Writers’ Beginnings, so der Originaltitel, wurde vor ein paar Jahren von Karen Nölle als Vom Wagnis, die Welt in Worte zu fassen ins Deutsche übertragen.
Für mich gehört Weltys Text zu den schönsten Selbstzeugnissen, die ich von Schriftstellern kenne: Es ist ein wunderbar leichter, zurückgenommener Versuch, den Anfängen des eigenen Schreibens nachzuspüren.
Während die Übersetzung im Großen und Ganzen elegant und textnah ist, wäre es doch wünschenswert gewesen, bei den Kapitelüberschriften näher am Original zu bleiben: Denn sie – „Hören“ (orig.: Listening), „Sehen“ (Learning to See) und „Sagen“ (Finding a Voice) – benennen bereits den Prozess, durch den die Schriftstellerin zu einer solchen wird: Vom Lauschen auf die Welt und die Worte, über das Einüben des „schriftstellerischen Blicks“ auf die Dinge, bis hin zum Finden der eigenen Erzählstimme zeichnet Welty mit demselben präzisen Blick fürs Detail, der ihre Geschichten ausmacht, auch die ihrer eigenen Kindheit und Jugend nach.
So beginnt das erste Kapitel, „Hören“ (Listening), mit einer wundervollen Beschreibung der Standuhr, die im Elternhaus einen prominenten Platz einnimmt und deren Geräusche für die kleine Eudora nicht nur dem Tag, sondern der gesamten Kindheit eine Form geben. Eine der vielleicht schönsten Passagen des Buchs handelt davon, wie das Lauschen auf die Welt und das Leben zusammengeht mit dem kindlichen Zuhören: „Genau wie beim ersten Vorlesen gab es auch später beim Selberlesen niemals eine Zeile, die ich nicht hörte. Während meine Augen dem Satz folgten, sprach eine Stimme ihn mir leise vor. Es ist weder die Stimme meiner Mutter noch kann ich sie einer anderen Person, die ich kenne, zuordnen, und ganz gewiss ist es nicht meine eigene Stimme. Sie ist menschlich, aber in mir, und ich lausche nach innen, wenn ich sie höre. Für mich ist es die Stimme der Geschichte oder des Gedichts selbst. […] Wie etwas klingt, wenn es geschrieben steht, damit beginnt für mich die Prüfung seines Wahrheitsgehalts.“
In „Sehen“ (Learning to See) schildert Welty eine Reise, die sie mit ihren Eltern zu den Großeltern unternommen hat, im frühen zwanzigsten Jahrhundert, mit dem Auto quer durch die USA. Hier passiert es der Jugendlichen zum ersten Mal, dass sie die Welt um sie herum auf eine neue Art sieht: Es gelingt ihr, aus der unmittelbaren Alltagsrealität herauszutreten und staunend auf ihre eignen Familienmitglieder zu blicken, aus jener ganz spezifischen Distanz, die für sie künftig die Perspektive der Schriftstellerin sein wird. Auf diese Weise lernt Welty nicht nur zu „sehen“, sondern findet auch das Sujet, um das künftig die meisten ihrer Geschichten, ob Romane oder Kurzgeschichten, kreisen werden: die Familie, ihre Bande, und vor allem die unzähligen Geschichten, die sich darin, dahinter und dazwischen verbergen.
Im dritten und letzten Kapitel, „Sagen“ (Finding a Voice), kommt Welty auf ihren ersten Job zu sprechen, der für sie zu einer lebenslangen Leidenschaft wurde, das Fotografieren: Es „zeigte mir, dass die Fähigkeit, Vergängliches einzufangen, indem ich im entscheidenen Moment bereit war, auf den Auslöser zu drücken, mein allerwichtigstes Bedürfnis war.“ Der Blick der Fotografin geht hier also mit dem der Schriftstellerin eins in eins, führt zur Ergründung des entscheidenden, maßgeblichen Bedürfnisses – dem Einfangen von Vergänglichem in Augenblicken – und eröffnet ihr endlich die Möglichkeit, sich auf die Suche nach ihrer eigenen Sprache zu begeben.

Es ist in meinen Augen eine der großen Stärken des kleinen, klugen Erinnerungsbuches, dass Welty darin nicht nur von sich selbst spricht. Ihre Erkundungen der eigenen Wurzeln als Schriftstellerin sind mindestens ebenso sehr eine liebevolle Auseinandersetzung mit der Rolle, die ihre eigenen Eltern darin gespielt haben. So schreibt Welty gegen Ende, ihre Eltern seien ihr nun, wo sie selbst als über Siebzigjährige über sie schreibe, „noch viel größere Rätsel als zuvor. Das Schreiben schuf in mir einen beständigen Respekt für das nicht Wissbare in einem Menschenleben, und einen Sinn dafür, wo nach den Fäden zu suchen ist – wie man ihnen folgen, wie man sie verbinden kann, wie man in dem Gewirr die klaren Linien ausmacht, die sich durchziehen.“
Wer versteht, wie groß der Bereich dieses „nicht Wissbaren“ in einem Menschenleben ist, und wer dennoch die Neugier darauf sich nicht nehmen lässt – die Neugier auf das Leben und auf das Lesen –, der, ist man nach der Lektüre von Vom Wagnis, die Welt in Worte zu fassen versucht zu sagen, hat nicht nur eine lebensverändernde Einsicht gewonnen – er (oder sie) bringt damit auch eine Grundvoraussetzung für jenen Blick auf die Welt mit, den wir Schriftsteller als unseren eigenen erkennen.

Eudora Welty, „Vom Wagnis, die Welt in Worte zu fassen“, übersetzt von Karen Nölle, Verlag Silke Weniger, Gräfeling 2011, 155 Seiten, 17,90 Euro

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